Interview mit Roman Rabe
WIR HATTEN EIGENTLICH NUR ZWEI MONATE LANG DAS GEFÜHL, JETZT WIRD MIT UNS GEREDET.
Roman Rabe ist Mitgründer der IG Radverkehr in Dresden, dem Vorläufer der ADFC-Ortsgruppe in der Landeshauptstadt. Schon 1987 begannen im Rahmen des "Kulturbundes" Aktivitäten für sicheren Radverkehr und den Ausbau von Radinfrastruktur. Die neuen Freiheiten der "Wende" nutzte Roman Rabe und gab im Frühsommer 1990 die erste Ausgabe der Speiche heraus, dem damals monatlich erscheinenden Informationsblatt des ADFC Dresden.
Seit wann gibt es in Dresden die IG Rad? Wie seid ihr gestartet?
Die IG Rad, der Vorgänger des ADFC in Dresden, war ja zunächst erst einmal unter dem Dach des Kulturbundes der DDR. Zur Gründungsversammlung waren wir sehr unsicher, ob da überhaupt jemand kommen würde. Wir hatten mit dem Kulturbund vorher gesprochen, der war einverstanden. Natürlich haben wir das auch alles sehr positiv dargestellt, was wir da vorhaben. Aber wir wussten nicht: Wer kommt da? Kommen genug, dass wir jetzt loslegen können? Was sind das für Leute? Kommt man mit denen klar, sprechen wir dieselbe Sprache oder hat man das Gefühl, das sind alles Stasi-Leute, die da sitzen und man hat dann eine Wand eisigen Schweigens gegenüber?
Seit wann bist du dabei?
Ich war von Anfang an dabei, unsere Gründungssitzung war 1987.
Wie lädt man ein, unter DDR-Bedingungen und ohne… Internet?
Der Kulturbund hat in die Zeitung geschrieben, dass er eine neue Gruppe gründet. Die Sitzung hat dann, glaube ich, auch beim Kulturbund stattgefunden, in einem kahlen Raum mit Röhrenbeleuchtung. Wir haben gedacht, es müssen wenigstens so viele zusammenkommen, dass Gruppenarbeit zu verschiedenen Themen möglich ist.
Es kamen keine Massen. Genau kann ich mich an die Zahl nicht erinnern, aber ich hatte allerdings den Eindruck, es sind genug, um etwas zu machen. Und ich hatte auch den Eindruck, dass es in der Mehrzahl Leute sind, die zu uns passen.
Was war eure Motivation, sich Ende der 80iger für Radverkehr zu engagieren?
Nach meinem Studium in Leipzig bin ich zurück nach Dresden gegangen und hatte das Gefühl: Jetzt müsste man noch etwas machen; etwas, das in die Gesellschaft hineinwirkt. Als Student habe ich mich in der katholischen Studentengemeinde engagiert, das war ja eher eine abgeschlossene Blase, in der man da geblieben ist. Wir wollten jetzt mal versuchen, da weiter zu kommen, vielleicht nicht gleich gegen das System zu arbeiten, aber mal konkret etwas zu verbessern. Und Fahrrad fahren war so ein Thema, wo man konkret etwas verbessern konnte. Mit Ralf Kukula, von dem die Initiative ausging, bin ich zur Schule gegangen. Und sowohl bei ihm als auch bei mir war Fahrrad fahren ein Hobby; ohne Fahrrad ging gar nichts. Mit dem Rad wurde alles gemacht.
Es gab ja in der evangelischen Kirche einen ökumenischen Prozess und in diesem Umfeld haben sich dann Gruppen gebildet: Zu Frieden und auch zu Ökologie. Zu denen hatte Ralf Kontakt und ich glaube, er selbst hat dort angeboten, eine Fotoausstellung in der Kreuzkirche zu machen zum Thema „Das Auto: Fluch oder Segen?“ Das hat uns in diese Verkehrsrichtung gebracht. Eigentlich kommen wir beruflich gar nicht aus der Ecke, er ist Trickfilmer, ich bin Bibliothekar. Und da kamen dann auch aus Freundeskreisen von uns Menschen dazu.
Hat die Ausstellung Aufsehen erregt, politisch?
Innerhalb des Kirchenraums gab es einen Schutz, an diesen Raum kam der Staat nicht wirklich heran. Es gab in dieser Zeit immer einen großen gesellschaftlichen Resonanzraum, sobald man etwas Kritisches gegen den Staat geäußert hat. Man musste nur irgendetwas Kritisches in eine Teilöffentlichkeit bringen, schon hörten alle hin. Man konnte allein durch Mundpropaganda viel Aufmerksamkeit erregen. Heute muss man sich ja die Aufmerksamkeit sehr hart erkämpfen, das war da schon ein bisschen anders, wenn man das richtige Thema hatte.
Es gab also eine offizielle Gründungsversammlung, 1987. Wie habt ihr euch danach organisiert? Gab es regelmäßige Treffen?
Wir haben uns monatlich getroffen. In Richtung der Verkehrspolitik haben wir auch versucht, Kontakt in die Stadtverwaltung aufzunehmen. Es gab auch ab und zu ein Gespräch. Aber das hat eigentlich alles überhaupt keine Wirkung gezeigt.
Aktionen außerhalb dieses geschützten Raumes durchzuführen, war sicherlich schwierig. Was waren eure Aktionen? Sicher vor 1989 eher keine Demos…?
Der Kulturbund war ja gewissermaßen ein Versuch des Staates, Tätigkeiten einzufangen und zu kontrollieren, aber trotzdem auch den Leuten ein Betätigungsfeld zu geben. Das war immer so ein bisschen auf der Grenze. Wir hatten keine Probleme, da wir anscheinend in diesem Rahmen geblieben sind. Unsere Idee war, nicht staatsgefährdend zu sein, sondern dem System zu suggerieren, dass Umwelt auch in einem sozialistischen Staat etwas Positives sein muss, wofür es lohnt, sich einzusetzen. Insofern war gegen die Idee so einer Gründung nichts einzuwenden.
Dann kamen die Jahre 1989/90. Wie politisch war die IG Radverkehr aus einer Perspektive im Jahr 1989? Sehnte man sich in der IG Rad vielleicht sogar nach der Wiedervereinigung, oder war man eher fokussiert auf einen demokratischen Prozess in der DDR?
Als IG Radverkehr waren wir nicht bei den Demos dabei, da hat jeder seine eigene Sache gemacht. Im Prinzip war der Kulturbund im Moment der Wende auch egal geworden. Für uns Gründer war dann die Notwendigkeit, mit so einer Organisation zusammen zu arbeiten, obsolet. Und in den Wochen und Monaten der Wendezeit spielte diese Arbeit auch nicht so eine große Rolle. Man wusste auch, dass die entscheidenden Leute in der Stadtverwaltung dort nicht bleiben würden. Unsere Arbeit hat dann erstmal geruht. Im Moment der Wahlen, drehte sich die Stadtverwaltung und es war Gesprächsbereitschaft da, weil sie selber nicht wussten, wie es weitergeht. Das war so ab März 1990. Und mit der Öffnung nach Westen kam dann viel Freiheit und eine Vielzahl von Arbeitsgebieten, die man beackern konnte. Ich habe dann begonnen, eine Zeitung für die IG Radverkehr zu machen, die Speiche.
In dem Moment gab es dann auch erste Ansätze, eine Art Vereinsleben zu starten. Vor 1990 wusste man ja nie, ob da jemand von der Stasi dabei ist, da gab es so etwas kaum. Dr. Zweynert hat sich allerdings schon bemüht, z. B. kleine Konzerte für Fahrradfreunde zu organisieren. Dann fielen diese Ängstlichkeiten weg und es gab schon ein Interesse, dass man sich kennt, miteinander Radtouren macht, einen Radlerstammtisch. Für mich lag der Fokus eher weiterhin bei der Förderung des Radverkehrs, also bei einer eher politischen Arbeit, weniger bei geselligen Themen. Da hatte ich meine eigenen Kreise.
Wann gab es die Idee einer Vernetzung mit dem ADFC Bundesverband? Wie habt ihr das gemacht? Sind die auf euch zugekommen?
Für die Mitglieder, die bereits im Kulturbund dabei waren, war es wichtig, dass wir eine Nähe zum ADFC haben für Unterstützung, aber das Vereinsleben war an sich nicht so wichtig. Es gab aber auch Leute, die noch nicht lange dabei waren und von vorn herein gesagt haben: Wir wollen im ADFC sein. Als die Möglichkeit bestand, bin ich sofort eingetreten. Für mich war es ein Statement, dass ich durch meinen Beitrag diese große Organisation unterstütze, auch damit der Westen sieht, dass wir im Osten dabei sind. Aber für die verkehrspolitische Arbeit und für unsere Ziele in Dresden spielte das zunächst keine Rolle. Wir hatten ja auch einen gewissen Namen, und der war uns wichtiger als das Label ADFC, das aus dem Westen kam.
Diese neueren Mitglieder haben das allerdings verfolgt und uns war klar, dass, sobald diese Gruppe in Dresden stark genug ist, wir das zusammenbringen müssen. Auf keinen Fall durften zwei Vereine parallel laufen. Wir wussten am Anfang nicht, wie schnell das gehen würde. Dann ging es aber enorm schnell, ich staune jetzt noch darüber. Im Oktober 1990 sind wir schon aus dem Kulturbund ausgestiegen.
Habt ihr aktiv die Fühler ausgestreckt zum ADFC-Bundesverband?
Ja. Der Hauptausschuss hat sich getroffen, aus dem Osten war noch niemand dabei. Es war aber ja klar, dass es für den ADFC von Bedeutung werden würde. Sie haben uns dann angeboten, dass jemand teilnimmt und weil kein anderer konnte, bin ich hingefahren.
Ich wurde total nett aufgenommen und wie einer der Aktiven im Hauptausschuss behandelt. Ich habe dort gesagt, dass wir unseren eigenen Weg brauchen und nicht als allererstes die Vereinsstrukturen des ADFC hier aufbauen, dass wir aber trotzdem Interesse an dem Verein haben, auch zunächst einmal ohne diese Vereinsstruktur. Schon die Hauptausschusssitzung zeigte ja, was für einen Apparat so ein großer Verein erforderte. Es war klar, viel Zeit würde man in die Organisation stecken müssen, was wir vorher klein halten konnten. Wir wollten nicht, dass das unsere gesamte Zeit auffrisst.
Im Hauptausschuss hatte ich nicht das Gefühl wie an vielen anderen Stellen, dass uns im Osten bestimmte Dinge übergeholfen wurden, bestimmte Strukturen und eine Art, Dinge zu machen.
In der Stadtverwaltung haben wir es ja dann erlebt: Wir hatten eigentlich nur zwei Monate lang das Gefühl, jetzt wird mit uns geredet, wir werden ernst genommen und die Prioritäten sind auch so gesetzt in der Verkehrspolitik in Dresden, dass wir nicht die gleichen Fehler wie im Westen begehen, sondern wir bekennen uns jetzt zu einer anderen Verkehrspolitik. Danach waren wir schon ernüchtert.
Wir haben in der Stadtverwaltung erfragt, wo denn jetzt eigentlich die Radverkehrspolitik angebunden ist und wer unser Ansprechpartner ist – das waren vier verschiedene Ämter. Es wirkte aussichtslos. Wir haben dann gefordert, es soll einen Fahrradverantwortlichen für die Stadt geben, damit auch in der Verwaltung irgendwo die Interessen zusammenlaufen. An diesem Thema haben die Gesprächspartner von unserer Seite ewig gearbeitet.
Uns wurde immer klarer, dass es extrem schwierig werden würde, weil die Strukturen überhaupt nicht so gestaltet waren, dass Radverkehr gefördert wird. Andere Projekte hingegen, zum Beispiel die Nordtangente nach Gorbitz oder die Autobahnanbindung, waren sofort im Bau. Dort ging es extrem schnell. So schnell konnte man gar nicht gucken, wie da die Prozesse liefen.
Der Autoverkehr nahm auch sprunghaft zu. Im März oder April war die Zahl der Verkehrsunfälle vom Vorjahr erreicht. Vom gesamten Vorjahr! Da traf ein Verkehrssystem auf eine Anzahl an Autos, für die es nicht ausgelegt war. Das hat uns komplett überholt. Aber die Ziele, die wir in der DDR-Zeit formuliert haben, die kann man heute noch so nehmen!
Perfekte Überleitung zur letzten Frage: Wie beurteilst du, wo wir heute stehen? Wie siehst du den ADFC heute?
Ich bin bis heute Mitglied, auch meine Familie war immer im ADFC. Ich würde auch nie austreten, da ich den ADFC als sehr wichtigen Verein empfinde, auch wenn ich selber nicht mehr aktiv bin.
Aber natürlich, die aktuellen Diskussionen um unser Klima haben die Verkehrsproblematik neu aufgerollt. Vor einem Jahr hätte ich es noch nicht für möglich gehalten, wie ernsthaft diese Diskussion nochmal wird. Der Ursprung dieser Entwicklung ist aber nicht der Gedanke, dass eine lebenswertere Stadt eine verkehrsärmere Stadt ist, sondern die panische Angst, die immer mehr Leute erfasst.
Hätten Konzerne eher gehandelt, dann hätte es auf die Politik eine andere Wirkung gehabt. Ich bin der Meinung, dass die Politik ein ziemlich zahnloser Tiger ist, auch in einem demokratischen Land wie unserem. Solange die Profite groß genug sind, verschließt man die Augen.
Inzwischen bin ich der Meinung, dass das Verkehrsthema nur ein Unterthema der Problematik ist, in der wir eigentlich stehen, dass man sich damit fast nicht aufhalten kann. Wir dürfen nicht denken, dass wir mit neuen Technologien den individuellen Verkehr im jetzigen Umfang aufrechterhalten können. Das halte ich für eine Illusion. In dieser Hinsicht ist das Fahrrad für mich immer noch ein absoluter Hoffnungsträger. Vielleicht sogar stärker als früher. Wir brauchen einen weniger individuellen Verkehr, dann bleibt das Fahrrad als individuelles Verkehrsmittel fast übrig, das wir uns guten Gewissens leisten können.
Es gibt da ja durchaus auch eine entsprechende Entwicklung. Ich bin Jahrzehnte Radfahrer in dieser Stadt und ich habe mittlerweile das Gefühl, in den letzten fünf Jahren hat der Radverkehr in dieser Stadt unglaublich zugenommen. Ich habe es nie für möglich gehalten, dass mich der Radverkehr als Radfahrer stören könnte. Aber in den letzten Jahren ist das immer öfter tatsächlich der Fall.
Wir sitzen im Kulturpalast mit der Zentralbibliothek, früher wäre es nie vorstellbar gewesen, dass mitten im Winter, bei diesem Wetter alle Fahrradständer für die Mitarbeiter des Hauses voll sind. In dieser Hinsicht hat sich so viel geändert! Manches in diesem Jahr hängt sicherlich mit der Corona-Pandemie zusammen, weil das Fahrrad eine Fortbewegungsart ist, bei der man sich nicht ansteckt. Ich denke aber, diese Entwicklung wird nicht wieder rückläufig sein, weil Leute, die wegen der Pandemie aufs Fahrrad umgestiegen sind, gerade dessen Vorteile erleben. In der Stadt bedeutet die Nutzung des Fahrrades eine große Zeitersparnis.
Die Bedeutung des Radverkehrs wird weiter zunehmen, ob das gefördert wird oder nicht, da bin ich mir sehr sicher. Jede Förderung kann natürlich nur von Vorteil sein, auch um den Autoverkehr zu reduzieren. Die Problematik, in der wir jetzt stehen, ist über das Verkehrsthema nicht zu bewältigen. Nicht nur in Bezug auf das Verkehrsmittel Auto müssen wir uns im Klaren sein, dass wir uns so viel einfach nicht mehr leisten dürfen oder es muss vieles so teuer werden, dass es immer weniger werden, die es nutzen.
Einige beschweren sich, dass sie beim Konsumieren immer mehr ein schlechtes Gewissen haben, aber ja, genau das müssen wir. Ich frage mich bei Käufen immer öfter: Brauche ich das wirklich? Ich merke, dass dieses Denken verfängt und hängen bleibt. Genau das muss passieren. Und dann müssen wir unser Geld viel stärker für Immaterielles ausgeben. Konzerte und Ausstellungen zum Beispiel ernähren Menschen, die eine kreative Arbeit machen und in ihr wenig Ressourcen verbrauchen. Wenn sich die Zahl derer, die materielle Dinge produzieren zugunsten derer verschiebt, die immaterielle Werte schaffen, , hätte das eine Wirkung in der Gesellschaft, die in die richtige Richtung geht. Das passiert aber nicht genug. Wir hängen unser Herz immer noch viel zu sehr an materielle Dinge.
Wir diskutieren über die Art der Energieerzeugung, aber keiner redet davon, dass wir eigentlich weniger Energie verbrauchen müssen, obwohl dasnotwendig und befreiend ist. Es geht bisher zumeist nur darum, dass wir intelligenter und effizienter erzeugen müssen. Es ist immer noch das alte Denken. Es ist immer noch das alte Denken.
Das Gespräch führte Konrad Krause