Interview mit Volkmar Zschocke
Uns ging es darum, für eine größere Öffentlichkeit das Thema Verkehrswende und die Mobilität ohne Auto, deutlich zu machen.
Im Alter von 20 Jahren organisierte Volkmar Zschocke in Chemnitz – damals Karl-Marx-Stadt – die erste Fahrraddemo in Chemnitz und lenkte damit als ein Radaktivist der ersten Stunde selbst die Aufmerksamkeit der Stasi auf sich. Öffentliche Artikel, Ausstellungen und Demonstrationen für eine andere Verkehrspolitik: Das war nicht nur eine frühe Forderung nach einer 180-Grad-Wende in der Verkehrspolitik, sondern stellte auch unmittelbar die führende Rolle der Arbeiterklasse und der sie tragenden Partei, der SED, infrage. Nicht allzu lange danach – und genau genommen bis heute – engagiert sich Volkmar Zschocke in der Kommunal- und Landespolitik und hat auch heute noch, 30 Jahre später, immer noch mit Radverkehr zu tun.
Im April 1989 hast du eine Ausstellung der IG Rad Dresden nach Chemnitz gebracht und dort gezeigt. Die Sache interessierte bald die Stasi. Was hat es damit auf sich?
Die Ausstellung der IG Radverkehr Dresden war für uns in Karl-Marx-Stadt insofern interessant, weil sich schon damals auch die Dresdner Radlerinnen und Radler mit der Frage befasst haben, wie man einen attraktiven öffentlichen Raum in der Stadt gestalten kann und welche Rolle da auch das Fahrrad spielen kann, beziehungsweise was das mit Radverkehr zu tun hat. Und in dieser Ausstellung ging es genau darum. Das war genau genommen keine besonders brisante Ausstellung, aber schon eine Ausstellung, die eine gewisse Kontroverse zur Verkehrsplanung in der DDR beinhaltet hat im positiven Sinne. Ich glaube für die Stasi war das insofern auffällig, weil ich mich bei der Suche nach geeigneten Ausstellungsflächen als Vertreter des Kulturbundes ausgegeben habe. Ich war ja nie im Kulturbund, aber der Kulturbund war in der DDR ein ausgesprochener Türöffner. Wenn man also im Namen des Kulturbundes gekommen ist, hatte man die Chance, Zugang zu bekommen. Wir konnten dadurch die Ausstellung in der Hauptpost zeigen. Und beim Fahrrad-Franke auf dem Rosenhof, da stand sie auch eine ganze Weile.
Also seid ihr durchaus außerhalb des kirchlichen Kontextes, der kirchlichen Nische in der DDR, unterwegs gewesen?
Jaja. Daher die Idee mit dem Kulturbund. Das war eine der wenigen Möglichkeiten, wenn man das nicht nur im innerkirchlichen Rahmen machen wollte.
Bist du schon vor April 1989 in Erscheinung getreten? Oder wie bist du dazu gekommen?
Ich habe in diesem Jahr bei der Stadtmission Karl-Marx-Stadt ein sozialdiakonisches Jahr gemacht, also einen Freiwilligendienst, wo ich in der Jugendarbeit tätig war. Dort hatte ich Kontakt zu Arnold Kuhnert, später auch langjähriges ADFC-Mitglied. Der hat mich ein bisschen angeteasert, „Eingaben“ zu schreiben zur Verbesserung des Radverkehrs. Mit Arnold zusammen habe ich viele solche Eingaben geschrieben. Daraus ist dann die Idee entstanden, eine Interessengruppe Radverkehr Karl-Marx-Stadt zu gründen, ähnlich wie in Dresden.
Diese Gründung war dann auch recht erfolgreich, wir waren eine recht große Gruppe, auch über den kirchlichen Rahmen hinaus. Wie ich dann auch 1992 meiner Stasiakte entnehmen konnte, war die Gründung der Gruppe und auch die Strukturbildung in dieser Gruppe ein Thema für die Staatssicherheit. Die waren da mit drin und haben mit vier Leuten schon frühzeitig versucht, die Gruppe zu zerteilen, damit das nicht zu groß wird.
Im Sommer 1989 habt ihr in Chemnitz eine Fahrraddemo organisiert. Wie kommt man dazu?
Wir haben nicht wirklich etwas Neues erfunden. Diese Mobil-ohne-Auto-Aktionen gab es in der DDR in den 80ern relativ häufig. In anderen Städten und Regionen war es inzwischen schon wie eine Tradition, dass man zu Fahrradkorsos und Fahrraddemos aufruft unter der Überschrift „Mobil ohne Auto“. Natürlich immer im kirchlichen Kontext und in Verbindung mit kirchlichen Umwelt- und Friedensgruppen.
Richtete sich das eher an die Nutzer als an die Politik?
Uns ging es darum, für eine größere Öffentlichkeit das Thema Verkehrswende und die Mobilität ohne Auto, deutlich zu machen. Die Staatssicherheit hat darin natürlich ein besonderes Gefahrenpotenzial gesehen, was sich dann auch in Befürchtungen niedergeschlagen hat, die mir bei der Vernehmung mitgeteilt wurden: Man könnte ja Transparente mitführen, die über das Thema des Radfahrens hinausgehen.
Das heißt, du wurdest von der Stasi vorgeladen?
Es gab ein Gespräch, zu dem ich sogar abgeholt wurde. Mir wurde mit einem Bußgeld, es waren 1000 Ost-Mark, angedroht, dass ich dafür zu sorgen habe, dass die Demo nicht stattfindet. Das, wozu ich mobilisiert hatte, hat dann auch nicht stattgefunden, sondern die Route wurde in der entgegengesetzten Richtung abgefahren. Das wozu ich mobilisiert hatte, hat also tatsächlich nicht stattgefunden...
Ihr wart dann eine Gruppe des Kulturbundes? Oder habt ihr euch nur für eine ausgegeben? In welchem Kontext habt ihr euch unter den Bedingungen der DDR organisiert? Eine Vereinsgründung war ja eher nicht möglich.
Das war im Rahmen der sozialdiakonischen Jugendarbeit. Bei der Kirche hatten wir damals Zugang zu Ormig-Maschinen, also Vervielfältigungsgeräte mit Wachsmatrize, womit dann Flugblätter erstellt werden konnten. Diese musste ich dann immer kennzeichnen als „nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch“. Das war die Bedingung für diese Aktivitäten, wenn man sie unter dem Dach der Kirche organisieren wollte. Natürlich hatte die Stasi überall ihre Leute und wusste auch, was passiert, was gedruckt wird, wozu aufgerufen wird.
Die Stasi ist ja auf eure Aktion aufmerksam geworden, hat dich das eingeschüchtert? Wie war deine Reaktion?
Die Tatsache, dass die Demo trotzdem mit großer Resonanz stattgefunden hat – nur in entgegengesetzter Richtung – zeigt ja, dass es eine gewisse Bereitschaft gab, die Androhung nicht ganz ernst zu nehmen. Auf der einen Seite war es 1989. Das war in einer Zeit, wo vieles schon nicht mehr so krass war wie Ende der 70er oder Anfang der 80er Jahre. Andererseits war auch immer sehr viel Blauäugigkeit dabei. Das muss ich ehrlich zugestehen. Wir waren uns an vielen Stellen, als junge Aktive, der Konsequenzen unseres Handelns oft nicht bewusst. Ich bin ja heute erinnerungspolitisch aktiv, auch im Zusammenhang mit den Opfern der Staatssicherheit. Wenn man dann die eigenen Stasi-Akten hinlegt und sieht, was Anderen, nur ein paar Jahre eher, in einem anderen Kontext widerfahren ist, sieht man die Blauäugigkeit und den Leichtsinn, mit dem wir aktiv waren, im Nachhinein schon sehr kritisch.
Zum Thema Leichtsinn: Ihr habt doch schon eine Art Öffentlichkeitsarbeit gemacht? Eure Treffen waren doch nicht geheim? Im Prinzip konnte doch jeder teilnehmen?
Die Treffen waren öffentlich, jeder konnte kommen. Sie waren eben auch Stasi-öffentlich, was ich später anhand der Unterlagen gut nachvollziehen konnte. Die Staatssicherheit hat nicht nur überwacht, bespitzelt und verfolgt, sondern hat auch hervorragend dokumentiert. Dadurch sind ja auch zeitgeschichtliche Dokumente entstanden.
Habt ihr öffentlich eingeladen? Die Gründung der IG Radverkehr, Teil des Kulturbundes, stand beispielsweise in der Zeitung.
Wir haben damals vor allem mit der Öffentlichkeitsarbeit der Stadtmission gearbeitet, also quasi unter dem Dach der Kirche agiert. Die Arbeit mit dem Kulturbund hatte ich im Zusammenhang mit der Ausstellung „missbraucht“.
Habt ihr euch damals von euch aus als „gegen das System gerichtet“ gesehen, oder ging es euch eher um den kommunalen Maßstab?
Sicher ging es in den Gesprächen das eine oder andere Mal auch um „große“ Themen. Wenn ich mir aber die Dokumente und die Unterarbeitsgruppen, die sich gebildet haben, anschaue, dann war das schon sehr konkret kommunalpolitisch auf die Stadt bezogen. Wir hatten einen Forderungskatalog, hinter dem eine Arbeitsgruppe stand, die sich mit dem Radwegenetz in der Stadt befasst hat. Eine andere Gruppe hat sich mit dem touristischen Radverkehr beschäftigt. Es gab auch starke Initiativen im Zusammenhang mit Fahrradtechnik, denn das war in der DDR ein enormes Problem, für sein Fahrrad passende Ersatzteile zu bekommen. Eine weitere Gruppe war im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit tätig, z.B. wie man auch in der Bevölkerung ein größeres Bewusstsein für das Radfahren etablieren kann. Der Fokus lag aber auf der Stadt. Als dann erste Lockerungen kamen, erhielten wir eine Einladung vom Büro für Verkehrsplanung der Stadtverwaltung. Mit uns wurde besprochen, inwiefern wir uns bei Arbeitseinsätzen (z.B. bei Bordsteinabsenkungen) einbringen können.
1989 passierte ja dann noch jede Menge: Großdemos, Maueröffnung, die Stürmung der Stasi… Spielte das Fahrrad-Thema zur Wende für dich noch eine Rolle, oder war das dann durch andere Dinge überlagert?
Die Personen, die auch Mitglied der IG Radverkehr waren, waren auch anderweitig politisch aktiv. Die IG Radverkehr selbst, als Gruppe, hat zu diesem Zeitpunkt in meiner Erinnerung keine zentrale Rolle gespielt, als es darum ging, die großen Demos zu organisieren.
Wie ging es 1990 für dich und radverkehrspolitische Aktivitäten in Chemnitz weiter? Welche Rolle spielte für euch der ADFC, bzw. ab wann war das von Interesse? Oder waren 1990 erstmal andere Dinge wichtiger, als organisatorische Strukturen zu schaffen?
Dazu könnte man Bernd Rößiger interviewen, er kann sicherlich nochmal sehr gut erzählen, woher die ADFC-Werbegeschenke gekommen sind.
In meiner Erinnerung gab es plötzlich viele Werbegeschenke, eine Gruppe der IG war auch mal beim ADFC in Berlin. Da gab es dann Trinkflaschen und Gimmicks, die auch heute noch erhältlich sind. Über die Frage, ob wir den ADFC Karl-Marx-Stadt – später ADFC Chemnitz – gründen, gab es nicht wirklich eine strittige Auseinandersetzung. Es hat sich dann so ergeben. Bei der Gründung vom ADFC Chemnitz sind Teile von den Menschen dabei gewesen, die auch bei der IG Radverkehr mitgewirkt haben. Es sind aber auch neue Leute dazu gekommen.
Wie ging es für dich weiter? Hast du dich nach 1990 weiter radpolitisch engagiert?
Ich war ja damals bei den Grünen und habe mich relativ zeitig kommunalpolitisch im Kreistag engagiert. Seit 1992 war ich im Kreistag Chemnitz. Bei den mobilitäts- und verkehrspolitischen Fragestellungen war das Thema Radverkehr für mich natürlich immer von Bedeutung. Aber das ist es bis heute. Ich bin auch heute noch, nach 30 Jahren, in der Stadtratsfraktion für den Bereich Mobilität zuständig und das Thema Fuß- und Radverkehr steht bei mir nach wie vor im Fokus. Ich sehe darin als urban geprägter Mensch die vorrangigsten Bewegungsformen in der Stadt. Sie sind bequem, umweltschonend und platzsparend. Nicht überall in Sachsen kann man alles mit dem Rad erledigen, auch was große Entfernungen angeht. Aber in der Stadt gibt es aus meiner Sicht keine Alternative zum Fahrrad, was Geschwindigkeit und Bequemlichkeit angeht.
Das Gespräch führte Konrad Krause